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Theologische Predigt | „Wenn die Propheten aufständen…“ (Nelly Sachs)

Predigt: Pater Prof. Dr. Ulrich Engel OP | 25. und 26. Juni 2022

Liebe Gemeinde,
„Alles beginnt mit der Sehnsucht“1, sagt der junge Michael in Nelly Sachs’ Mysterienspiel „Eli“. Er sagt es in völlige Sichtlosigkeit hinein. Vermissen und Erwartung zugleich, ein Wahrnehmen des Noch-Nicht im Nicht, Verlangen nach Werdendem, Erfüllendem – alles Umschreibungen für Sehnsucht.
„Leben wir auch noch so stumpf dahin“, beschreibt Ernst Bloch aus seiner Sicht dieses Unvermeidliche, „so stößt uns doch etwas an. Stoßweise meldet sich der Hunger.“2 Das ist noch recht unbestimmt und trifft die ‚Sache‘ doch sehr genau. Sehnsucht nimmt ihren Anfang im Unbestimmten: Da ist Ungenügen – an Leistung, Erfolg, Wohlstand, Technik, an sich selbst… Man wartet „auf Godot“ (Beckett), ein Warten ohne Ende – und trotzdem irgendetwas anzielend.

Sehnsucht ist keineswegs nur eine ungestaltete Weise des Getriebenseins vom Physiologischen und Biologischen her. Nicht bloß Trieb. Paulus warnt eindringlich davor, Trieb und Sehnsucht, Fleisch und Geist zu verwechseln. In der Lesung aus seinem Brief an die Galater haben wir eben davon gehört: Wer sich seinen Mitmenschen in rücksichtsloser Weise zum Objekt macht – so Paulus –, der wird am Ende „vom anderen verschlungen“ (Gal 5,153). Echte Sehnsucht hingegen zeigt sich in der Liebe zu den anderen: „Du sollst den Nächsten Lieben, wie dich selbst.“ (Gal 5,14)
Sehnsucht ist mehr als Trieb. Es geht um mich als Person mit allem, was ich bin und habe und sein möchte. Ich bin es, der angerührt ist und sich sehnt! An der Wurzel jeder Art von Sehnsucht steht das Verlangen nach einem „Du“, also nach dem, was nicht wieder nur „Ich“ ist, sondern Begegnung verheißt.
In diesem Sinne schreit Sehnsucht nach Geliebtwerden und Liebenkönnen. Zu tun haben wir es – um ein Wort Viktor E. Frankls zu gebrauchen – mit einem „existentielle[n] Vakuum“4. Meine Sehnsucht schreit nach einer Sinngestalt und Sinnerfüllung meines Lebens. Ob das eintrifft, bleibt offen. Deshalb ist Sehnsucht immer wund, bleibt immer schutzlos.
Sinn ist nicht zu wollen; er kann nur gesucht und so wiederum ersehnt werden. Notwendig verfehlt ihn, wer nur sich und „seinem Griff“ traut, wie es Friedrich Nietzsche in seinem Gedicht „Nach neuen Meeren“ formuliert:

„Dorthin – will ich; und ich traue /
Mir fortan und meinem Griff.“5

In der zweiten Strophe des Gedichts löst Nietzsche die egozentrierte possessive Perspektive allerding wieder auf:

Alles glänzt mir neu und neuer, /
Mittag schläft auf Raum und Zeit –: /
Nur dein Auge – ungeheuer /
Blickt mich’s an, Unendlichkeit!“6

Liebe Gemeinde,
in der zweiten Strophe des Nietzsche-Gedichts wird es ganz deutlich: Mit seiner Sehnsucht reagiert der Mensch auf einen Anruf, eine Wirklichkeit, die von ihm unterschieden ist. Er reagiert auf eine Wirklichkeit, die er nicht selbst produziert oder plant, sondern die ihn anblickt, von jenseits seiner selbst. Der Mensch ist einer, dessen Dasein vom Geheimnis umgriffen und durchwaltet ist. Dieses Geheimnis muss nicht notwendig schon „Gott“ genannt werden. Nietzsche beispielsweise spricht in seinem Gedicht vom „Auge“ der „Unendlichkeit“.
Die Gestalten des Geheimnisses können vielfältig sein. Sie begegnen in der Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach einem Zusammenleben der Völker in Frieden und Gerechtigkeit, in der Sehnsucht nach Geborgenheit, Angenommensein, Heimat, Freiheit, nach dem geliebten Menschen, dem Kind, dem Freund oder der Freundin, nach Wahrheit oder Schönheit, nach Liebe, kurz: nach einem „Du“.
Von diesem „Du“ als Gegenüber ist heute in der Ersten Lesung wie auch im Evangelium die Rede. Für Elíscha, den jungen Mann aus Ábel-Mehóla, erweist sich der Prophet Elija als sein Gegenüber, sein „Du“. Elija blickt den jungen Bauern Elíscha an und – so heißt es im Ersten Buch der Könige – wirft ihm „[i]m Vorbeigehen (…) seinen Mantel über“ (1 Kön 19,19). Wenige Verse zuvor wird berichtet, dass und wie der „Mantel (…) mit JHWHs Gegenwart in Berührung gekommen war“7. Ähnlich funktionieren auch die verschiedenen Berufungen zur Jesus-Nachfolge in der lukanischen Evangelienperikope.

Liebe Gemeinde,
„das Herz muss lauter werden.“8 Mit diesem Guardini-Zitat ist unsere Predigtreihe in diesem Semester betitelt. Ergänzen könnten wir nun: das Herz muss lauter werden – damit wir lernen, unserer Sehnsucht mehr zu trauen. Elíscha war so jemand, der ein lauteres Herz hatte, das ihm Kompass war auf seinem Weg.
Sucht man nun ein Gebet, in dem Sehnsucht als spirituell-menschliche Grundhaltung ihren vollen Ausdruck findet, bietet sich der frühchristliche Ruf aus dem 1. Korintherbrief an: „Marána tha – Unser Herr, komm!“ (1 Kor 16,22) Die christliche Gemeinde ruft auf diese Weise nach dem, der ihr Herr und Leben ist, den sie im Glauben schon kennt, in ihrem Versammeltsein unter Wort und Sakrament als ihre Mitte erfährt, den sie aber noch nicht schaut. Die Gemeinde sehnt sich nach dem lebendigen Gott und der Gemeinschaft mit ihm. Nicht theoretisch, sondern weil sie diesen heilbringenden Gott in Jesus schon erfahren hat. Deshalb können die Gemeindemitglieder ihn auch als ein ihnen vertrautes „Du“ ansprechen: „Unser Herr, komm!“ Und zugleich wissen sie darum, dass das Ersehnte nie erzwungen, sondern nur erwartet werden kann, in Hoffnung und Geduld.
Sucht man nochmals nach einem Gebet, das die genannte Doppelstruktur der gläubigen Sehnsucht Ausdruck findet, dann bietet sich der Psalm 122 an. Vom seligen David von Himmerod OCist († 1179) sagt die Überlieferung: „Er hatte das Gesicht eines Mannes, der nach Jerusalem zieht.“9 Ein Sehnsuchts-Gesicht. Nach Jerusalem zog ihn seine Sehnsucht. Und bis heute ist die Stadt das ersehnte Ziel der gläubigen Pilger: „Dorthin ziehen die Stämme hinauf, die Stämme des Herrn.“ (Ps 122,4a) Weil Gott dort ist! Von dorther trifft das Licht der künftigen Herrlichkeit schon jetzt das Gesicht des Pilgers, den nichts auf seinem Weg dorthin aufhalten kann.
Jehuda Halevi († 1141), der sich im 12. Jahrhundert aus seinem Exil in Spanien nach Jerusalem aufmachte, formulierte es so:

„Und ich hör auf, zu gehn, wo Weg und Steg ist, /
und richte meinen Pfad durch Meeresweiten /
zum Schemel hin der Füße meines Gottes, /
um dort den Sinn, die Seele hinzubreiten.“10

Liebe Gemeinde,
vertraute Stege und Wege, eingefahrene Gewohnheiten und Ansichten wollen verlassen werden. Neues soll erreicht werden. Und doch braucht es dazu auch den Weg durch das alte Jerusalem, das Jesus töten wird, um das neue Jerusalem, in dessen Mauern Friede und in dessen Häusern Geborgenheit wohnen, zu erreichen (vgl. Ps 122,3).
Im Wissen um seinen Tod geht Jesus hinauf nach Jerusalem. Darauf macht Lukas zu Beginn der Evangelienperikope des heutigen Sonntags aufmerksam: „Als sich die Tage erfüllten, dass er hinweggenommen werden sollte, fasste Jesus den festen Entschluss, nach Jerusalem zu gehen.“ (Lk 9,5111)
Noch ist das Glück nicht vollkommen. Jerusalem ist Vorgeschmack des Ersehnten. Gregor der Große, den der Patrologe und Kirchenhistoriker Jean Leclercq OSB (1911–1993) einmal den „Lehrer der Sehnsucht“12 genannt hat, formulierte diese Spannung zwischen „Schon“ und „Noch nicht“ so: „Wer mit seinem ganzen Herzen nach Gott verlangt, besitzt ganz gewiss schon den, den er liebt.“13 … auch wenn die Realität etwas anderes sagt!
Paulus ist Kronzeuge für diese Spannung, die bei ihm „Seufzen im Geist“ genannt wird. Die ganze Schöpfung, heißt es im 8. Kapitel des Römerbriefes, liegt in Seufzen und Wehen. Und auch wir „auch wir seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Kinder14 offenbar werden. (…) So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, was wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern.“ (Röm 8,23.26)
Der Geist ist also die Liebeskraft derer, die von Christus ergriffen sind. Der Geist ist der Antrieb, der uns sehnsüchtig rufen lässt: „Komm, Herr Jesus!
Und der Geist ist zugleich der Uns-Zurückrufende, von dem es im letzten Buch der heiligen Schrift, der Offenbarung des Johannes heißt: „Der Geist und die Braut (…) sagen: Komm!“ (Offb 22,1715)
Was es auf meiner Seite bedarf, ist das Hören auf den Ruf des Uns-Zurückrufenden. Ein Hören auf den Ruf in die Nachfolge, den Ruf in die Liebe; ein Hören auf die prophetische Einrede, auf Gottes herausforderndes Wort.16 Die überlebende Jüdin, Friedens- und Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs (1891–1970) hat es uns eingeschärft:

„Wenn die Propheten einbrächen /
durch Türen der Nacht /
und ein Ohr wie eine Heimat suchten – (…) /
Ohr der Menschheit /
du mit dem kleinen Lauschen beschäftigtes, /
würdest du hören? (…) /
Wenn die Propheten aufständen /
in der Nacht der Menschheit /
wie Liebende, die das Herz des Geliebten suchen, /
Nacht der Menschheit /
würdest du ein Herz zu vergeben haben?“17

________________

1 N. Sachs, Fahrt ins Staublose. Gedichte, Frankfurt/M. 1961, 372.
2 E. Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs (Gesamtausgabe Bd. 14), Frankfurt/M. 1968, 344.
3 Zum im Hintergrund aufscheinenden erbitterten Streit in der Gemeinde vgl. W. Radl, Galaterbrief (SKK. NT Bd. 9), Stuttgart 185, 81.
4 V. Frankl, Die existentielle Frustration, in: ders., Das Leiden am sinnlosen Leben, Freiburg/Br. 2021, 81–85.
5 Das Gedicht „Nach neuen Meeren“ ist Teil der „Lieder des Prinzen Vogelfrei“: F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“), in: ders., Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. Bd. 3: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft, München 1999, 343–651, hier 649.
Ebd.
7 E. A. Knauf, 1 Könige 15–22 (HThK.AT), Freiburg/Br. o.J., 335.
8 R. Guardini, Der Herr. Betrachtungen über die Passion und das Leben Jesu Christ, Würzburg 1951, 77.
9 Zit. nach C. Bamberg, Gebet der Sehnsucht, in: Geist und Leben 47 (1974), 177–192, hier 186.
10 J. Halevi, Zionslieder. Mit der Verdeutschung von F. Rosenzweig und seinen Anmerkungen, Berlin 1933, 44.
11 Vgl. dazu F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas. 2. Teilband. Lk 9,51–14,35 (EKK.NT Bd. III/2), Zürich – Düsseldorf – Neukirchen-Vluyn 1996, 23–30.
12 Zit. nach C. Bamberg, Gebet der Sehnsucht, a.a.O., 189.
13 In Ev., 30,1.
14 In EÜ/2016 heißt es an dieser Stelle „Söhne“.
15 Kursivsetzung U.E.
16 Vgl. T.R. Peters, Steh auf und geh. Anstiftungen aus dem Evangelium, Mainz 1984, 108–111.
17 N. Sachs, Wenn die Propheten einbrächen, in: dies., Fahrt ins Staublose, Frankfurt/M. 1961, 94.

Foto & Grafikdesign Anja Matzker